Stuttgarter Zeitung, 23. Mai 2003

Die Tenöre sterben allmählich aus

Geprobt wid im Gemeindesaal: Der Sängerbund Aurora Stuttgart feiert 150 Jahre Stimmeskraft

Das Auf und Ab der Mitgliederzahlen ist für den Sängerbund Aurora nichts Neues. Trotz klangschwacher Zeiten ist dem Verein niemals die Puste ausgegangen. Seit 150 Jahren hat sich der Chor dem Erhalt deutscher Volkslieder verschrieben.

Ein Glück, dass Gudrun Matheis nicht auf ihren Vater gehört hat. Der hatte zwei Jahrzehnte lang den Ton angegeben beim Sängerbund Aurora und eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer sich zum Chorleiter eignet und wer partout nicht in Frage kommt. "Frauen können nicht dirigieren", hatte er stets behauptet. Seine Tochter belehrte ihn eines Besseren und löste ihn Mitte der 70er Jahre ab. Im Nachhinein habe er zugegeben, dass die Entscheidung die richtige gewesen sei, erinnert sich Gudrun Matheis mit einem Schmunzeln.

Die aufgeweckte 63-Jährige fährt jedenMittwoch in den Saal der katholischen Kirchengemeinde St. Maria, wo sich die Sängerfreunde zur Probe treffen. Ihr Mann, Heinz Matheis, ist mit von der Partie, schließlich hält er dem Chor seit 40 Jahren die Treue und erledigt als Schriftführer den Papierkram. "Singen hält jung und frisch", sagt Gudrun Matheis. Und fast könnte man meinen, sie mache Werbung für einen Fitnessclub. "Da wird alles ordentlich in Bewegung gebracht, das ist auf jeden Fall gesund."

Doch während Fitnessclubs gemeinhin regen Zulauf haben, kränkelt der Sängerbund Aurora schon seit einigen Jahren. Gerade noch 40 Mitglieder zählt der Chor, und das Durchschnittsalter liegt bei stolzen 58 Jahren. Schon einmal hat es dem Verein an Sängern gemangelt, und es wurde prompt gehandelt. 1934 fusionierten der Sängerbund (gegründet 1853) und der Verein Aurora (aus dem Jahr 1956) miteinander. Doch der Zweite Weltkrieg machte den Mitgliedern einen STrich durch die Rechnung. Auf das Vereinslokal Paulinenhof ging 1944 eine Fliegerbombe nieder. Das Gebäude sei zerstört worden und sämtliches Schriftgut verbrannt, erzählt Heinz Matheis.

In der Hopfenblüte, einem Lokal in der Tübinger Straße, wurde der Singstundenbetrieb 1946 wieder aufgenommen, wie es in der Festschrift zum 150-Jährigen heißt. Damals waren die singfreudigen Männer noch unter sich. Erst 1956 wurde mit alten Traditionen gebrochen und die Frauen, die inzwischen einen eigenen Chor als Ableger gegründet hatten, durften offiziell dazustoßen.

Heute sind die Frauen in der Überzahl, und Gudrun Matheis kann nicht recht verstehen, warum vor allem die Männer solche Chormuffel sind. Viele wollten nach der Arbeit vor dem Fernseher nur noch die Beine hochlegen und sich berieseln lassen, beklagt die Chorleiterin. Es fehle an Ersatz für die älteren Sänger. Die Folge läge auf der Hand: "Die Tenöre sterben allmählich aus", sagt Matheis. Beim Sängerbund Aurora springt eine Frau als Tenor ein - keine optimale Besetzung, aber besser als eine Lücke in den Reihen. Matheis ist dennoch optimistisch: "Irgendwie ist es immer weitergegangen."

Der Sängerbund Aurora tritt morgen um 17 Uhr im Degerlocher Heinrich-Kaun-Haus (Guts-Muths-Weg 14) mit einem Festprogramm auf. Karten kosten 11 Euro; Infos zum Chor unter Telefon 53 37 48.

*Gemeinsam bringen es Gudrun und Heinz Matheis auf fast 90 Jahre im Sängerbund.